Durchgerechnetes Beispiel: Taylor-Polynome für die Gaußsche Glockenkurve
Wir wollen das Taylor-Polynom nullter, erster und zweiter Ordnung für die Gaußsche Glockenkurve entwickelt an einem beliebigen Punkt x0 bestimmen. Die Funktion selbst ist gegeben durch f(x)=e−x22.
Bestimmen wir zunächst die nötigen Ableitungen (s. dazu Abschnitt "Differentialrechnung mit einer Variable"):
f(x)=exp(−x22)f′(x)=−xexp(−x22)f″(x)=(x2−1)exp(−x22)
Weiterführende Bemerkung: Wie wir sehen, bildet sich mit steigender Ordnung der Ableitung n der Gaußschen Glockenkurve ein Vorfaktor, der selbst ein Polynom vom wachsenden Grade n darstellt. Er steht in direkter Relation zu den sog. "Hermiteschen Polynomen", die z.B. in der Quantenphysik bei der Lösung der Schrödinger-Gleichung oder in der Optik bei der Lichtausbreitung in optischen Fasern und bei Laserresonatoren eine sehr große Rolle spielen.
Schauen wir uns auch noch einmal die Definition der ersten Taylor-Polynome an:
T0(x)=f(x0)T1(x)=f(x0)+f′(x0)(x−x0)=T0(x)+f′(x0)(x−x0)T2(x)=f(x0)+f′(x0)(x−x0)+12f″(x0)(x−x0)2=T1(x)+12f″(x0)(x−x0)2
Jetzt setzen wir ein. Aufpassen müssen wir, dass wir bei den Ableitungen den Wert an der Stelle x0 einsetzen, und nicht die Funktionen von x, die wir oben ausgerechnet haben. Die Abhängigkeit der Taylor-Polynome soll ja nur linear, quadratisch usw. sein, d.h. dort steht das x ausschließlich in der Klammer (x−x0) mit dem jeweiligen Exponenten! Wir erhalten:
T0(x)=exp(−x202)T1(x)=exp(−x202)⋅[1−x0(x−x0)]T2(x)=exp(−x202)⋅[1−x0(x−x0)+(x20−1)(x−x0)2]
Das Taylor-Polynom nullter Ordnung T0(x) ist in gewisser Weise trivial: Wir nähern die Funktion einfach durch ihren Funktionswert an der Entwicklungsstelle x0 mit einer Konstanten. Dies kann nur an Stellen x0 gerechtfertigt sein, an denen
die Funktion selbst fast ausschließlich horizontal verläuft. Wir werden sehen ob es solche gibt. Die Funktion T1(x) stellt eine lineare Funktion, also eine Gerade, die Funktion T2(x) eine quadratische Funktion, also eine Parabel dar. Schauen wir noch, ob wir aus dem Ausgerechneten besondere Punkte erkennen. Für x0=0 verschwindet die erste Ableitung und die zweite ist negativ. Es handelt sich also um ein lokales Maximum der Funktion f(x). Hier wird durch das Verschwinden der ersten Ableitung das Taylor-Polynom ersten Grades formal identisch mit dem nullten Grades. Wir erwarten also, dass in diesem Punkt die Parabel 1−x2
Unsere Ergebnisse können zusammengefasst folgendermaßen visualisiert werden. Hierbei kann x0 verschoben werden um die Stelle, an der die Funktion Taylor-enwickelt wird, zu ändern.
Hierbei macht man folgende Beobachtungen:
- Weit weg vom Koordinatenursprung ist die Funktion beinahe konstant und nahe Null. Dies bedingt, dass sowohl die erste, also auch die zweite Ableitung gegen Null gehen. Damit bleibt in der Taylor-Entwicklung hauptsächlich nur noch das nullte Glied übrig und die Näherungskurven sind ebenfalls flach.
- Beim Annähern an x0=0 ist das Taylorpolynom erster Ordnung wie zu erwarten die Tangente an die Funktion im jeweiligen Punkt. Diese Näherung ist mehr oder weniger gut, je nachdem wie stark die Funktion im jeweiligen Punkt gekrümmt ist. Dies ist klar, da die zweite Ableitung einer Funktion ein Maß für die Krümmung darstellt, die bei T1(x) ja gerade vernachlässigt wird.
- Für x0=0 ist die Krümmung der Glockenkurve maximal. Man kann nachrechnen: die zweite Ableitung hat hier ein Extremum. Das heißt, der Bereich, in dem T1(x) eine gute Näherung darstellt, der sog. "Konvergenzradius" von T1(x), ist hier ziemlich klein. Die parabolische Näherung, d.h. T2(x), hat einen wesentlich größeren Konvergenzradius und stellt folglich die bessere Näherung dar.
- An den Wendepunkten der Funktionen sind beide Näherungen "gleich gut". Dies liegt ganz einfach daran, dass ja in Wendepunkten die zweite Ableitung verschwindet. Damit verschwindet auch der quadratische Term, der T2(x) von T1(x) überhaupt erst unterscheidet und beide Funktionen werden identisch. In einem Wendepunkt gibt es also keine quadratische Taylor-Entwicklung sondern nur eine lineare.